Umsetzung der Klimafinanzierung
Abfall, Zement und Klimawandel – Das Beispiel Indien
Ein im Oktober 2016 veröffentlichter Artikel thematisierte den zunehmenden Trend der Nutzung von Abfall als Ersatz für fossile Brennstoffe bei der Herstellung von Zement – einer Praxis, die von der GIZ mit Mitteln der Klimafinanzierung in verschiedenen Ländern des Globalen Südens unterstützt und gefördert wird, obwohl sie im Hinblick auf den Klimawandel, die Luftverschmutzung und die Ressourceneffizienz eine stark negative Bilanz aufweist. Im vorliegenden Artikel wollen wir uns näher mit dem Beispiel Indiens befassen, wo diese Praxis weiterhin eine umwelt- und gesundheitspolitische Herausforderung für die betroffenen Gemeinden darstellt.
Von Albert Einstein stammt das Zitat: „Wenn ich eine Stunde Zeit hätte, um mich mit einem Problem zu befassen, würde ich 55 Minuten lang über das Problem nachdenken und 5 Minuten lang über die Lösung.“
Wir hingegen befinden uns in einem Zeitalter des Hyper-Problemlösens, in dem die Suche nach Lösungen und ihre Umsetzung quasi am Fließband vonstattengehen. Bei jedem auftretenden Problem steht eine Unzahl von Wissenschaftlern, Experten und Beratern bereit, um es zu „lösen“. Die auf diese Weise gewonnenen Lösungen schaffen jedoch mehr Probleme, als sie beseitigen.
Zementherstellung mittels Kunststoff auf globaler Ebene – eine vernünftige Klimastrategie?
Das Interesse der Zementbranche an der Nutzung von Abfällen als Brennstoff setzte Mitte der achtziger Jahre ein und ist seither weltweit exponentiell gewachsen. Zuerst zielte das Ersetzen herkömmlicher fossiler Brennstoffe durch Abfall hauptsächlich auf die Senkung der Herstellungskosten ab, von denen bei der Produktion von Zement fast ein Drittel auf den Brennstoffverbrauch entfällt. Als Reaktion auf den zunehmenden Druck hinsichtlich der durch die Zementherstellung weltweit entstehenden Umweltbelastungen unternahm die Branche dann den Versuch, die Nutzung von Abfällen anstelle fossiler Brennstoffen als ökologisch vorteilhaft darzustellen.
Der Industriezweig gehört in der Tat zu den Hauptverursachern des Klimawandels. In der Rangliste der 90 Unternehmen, die 63 Prozent aller Treibhausgasemissionen verursachen, sind außer den Erzeugern fossiler Kraftstoffe nur Zementhersteller vertreten. Die Zementbranche zeichnet allein für fünf Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich12 und hat daher das Verbrennen von Haushalts- und Industrieabfällen (sogenannten alternativen Brennstoffen) als angeblich maßgebliche Strategie zur Reduzierung ihrer Treibhausgasemissionen ersonnen, um auf diese Weise vorzugeben, keine fossilen Brennstoffe zu nutzen. Die Nutzung von aus Abfällen gewonnenen anstelle von fossilen Brennstoffen wird als Mitverbrennung bezeichnet.
Der Begriff Mitverbrennung (Co-Incineration) bezeichnet ein Verfahren, bei dem Industrie- und Siedlungsabfälle durch Vorbehandlungstechniken in Brennstoffe umgewandelt und dem Ofen als solche zugeführt werden. Auf diese Weise ersetzt der Mitverbrennungsprozess die bei der Zementherstellung herkömmlicherweise eingesetzten Brennstoffe – vor allem Petrolkoks, ein Nebenprodukt der Ölraffination – durch Sekundärbrennstoffe. Bei diesen Sekundär- oder Ersatzbrennstoffen handelt es sich meist um Pellets, die durch Zerkleinerung und Trocknung von Siedlungsabfällen hergestellt werden, um als Brennstoff für die Zementherstellung genutzt werden zu können. Während die Zementindustrie dies als umweltfreundlich bezeichnet, legt die Bilanz der Mitverbrennung weltweit eher das Gegenteil nahe.
Sekundärbrennstoffe enthalten jedoch einen hohen Anteil von Abfall auf fossiler Basis in Form von Kunststoffen, Reifen und Ölabfällen. Sie stellen also – anders als von der Branche behauptet – keinen echten Ersatz fossiler Brennstoffe dar und können daher auch nicht als Teil der Klimastrategie eines Landes zur Einhaltung der Verpflichtungen des Pariser Abkommens dienen.
Im spezifischen Fall von Indien zeigt die Zusammensetzung der Sekundärbrennstoffe (siehe Schaubild 1) einen erheblichen Anteil an Materialien, die recycelt, wiederverwendet oder neu gestaltet werden könnten, wie Kunststoffe, Papier, Textilien und Holz.
So gesehen kreiert Mitverbrennung also eher einen Staubsaugereffekt – sie entzieht dem Produktions- und Verbrauchssystem einen erheblichen Anteil an Abfall, der andernfalls in Übereinstimmung mit der Abfallhierarchie recycelt, wiederverwendet oder neu gestaltet werden könnte. Dies verstärkt den Anstieg der Treibhausgasemissionen, da die Wiederverwendung dieser Materialien eine größere Einsparung von Emissionen bedeuten würde.
Zudem hat die Unterstützung für die Mitverbrennung aus Wirtschaft und Politik einen Lock-in-Effekt zur Folge, weil das Abfallwirtschaftssystem sowie die Energie- und Klimapolitik auf diese Strategie festgelegt werden – zum Nachteil von umweltfreundlicheren und ressourceneffizienteren Strategien, die der Abfallvermeidung, der Wiederverwendung und dem Recycling Priorität einräumen würden. Dadurch werden die örtlichen Verwaltungen etwa daran gehindert, das Abfallwirtschaftssystem in den Städten neu zu organisieren, und die Mitverbrennung erweist sich als zentrales Hindernis für die Umsetzung einer möglichst effektiven Klima- und Abfallwirtschaftspolitik.
Darüber hinaus stellt die Verwendung bestimmter gefährlicher Arten von Industrieabfällen oder gewissen Kunststoffen als Brennstoff auch einen wesentlichen Faktor für die Zunahme der Luftverschmutzung dar. In Kombination mit der oft fehlenden Überwachung sowie der mangelnden Durchsetzung von Vorschriften und technischen Verfahren trägt dies zu dem Umweltverschmutzungspotential der Mitverbrennung bei. Es ist also große Vorsicht geboten, ehe dieses Verfahren als Klimaschutzlösung gefördert wird.
Das Abfallproblem in Indien
Es steht außer Frage, dass Länder wie Indien von einer Müllkrise heimgesucht werden, die eine Bedrohung für die Umwelt und öffentliche Gesundheit darstellt. Im Widerspruch zu Einsteins Herangehensweise werden dafür jedoch Lösungen entwickelt, die von einem mangelnden Verständnis des eigentlichen Problems geprägt sind.
Im Laufe des letzten Jahrzehnts hat das Zusammentreffen von rasanter Urbanisierung und wirtschaftlichem Wachstum zu einer erheblichen Beschleunigung der Material- und Energieflüsse in der Wirtschaft geführt. Während die absolute Menge an Feststoffabfällen mit mehr wiederverwertbaren Materialien wie Kunststoffen, Papier und Metallen zugenommen hat, sind über fünfzig Prozent der Abfälle nach wie vor organischer Natur. Die meisten Städte des Globalen Südens, einschließlich Indiens, verfügen über Abfallwirtschaftssysteme, die sich ungeplant entwickelt haben. Dies brachte große, nicht bewirtschaftete offene Mülldeponien, erhöhte Konflikte um die Abfallentsorgung, mehr Umweltverschmutzung und andere negative Auswirkungen mit sich.
Um der zunehmenden Bedrohung durch Siedlungs- und Sonderabfälle zu begegnen, verschrieb sich Indien der Mitverbrennung von Abfällen. Im Jahr 2010 genehmigte die Bundesumweltschutzbehörde CPCB eine Reihe von Leitlinien (2016 aktualisiert), die die Einführung dieser Technologie erleichterten.
Mehrere Zementhersteller erhielten von den Umweltschutzbehörden Genehmigungen auf der Grundlage von „Testversuchen“, mittels derer Veränderungen der Schadstoffbelastung durch die Verbrennung von Abfällen geprüft werden sollten. Wie nicht anders zu erwarten, verliefen sämtliche dieser Testversuche erfolgreich. In der Theorie erschien das Verfahren der Mitverbrennung eine ideale, nahezu magische Lösung zu sein, um Indiens Müllproblem zu lösen. Die Realität vor Ort sieht jedoch anders aus.
Von vornherein werden Testversuche in der Regel unter optimalen Bedingungen durchgeführt, also wenn der Ofen die optimale Betriebstemperatur aufweist; und die Luftproben werden am Schornstein genommen. Dadurch werden Störungen (oder Störereignisse) wie unvorhersehbare Ausfälle von Abgasreinigungsanlagen, die zu einer Zunahme der Luftverschmutzung und zur Verletzung von Emissionsvorschriften führen, nicht in die Messungen einbezogen.
Die amerikanische Umweltbehörde EPA gehört zu den wenigen Aufsichtsbehörden, die die Dokumentation und Meldung von Störungen vorschreibt. Die Daten einer diesbezüglichen Studie, die zwischen 1999 und 2005 durchgeführt wurde, belegen die schockierende Häufigkeit, mit der derartige Störungen auftreten. Zwischen Januar und Oktober 1999 meldete der Zementhersteller Cemex 99 solcher Störungen. In den Werken der in Schweizer Besitz befindlichen Holcim Inc. im US-Bundesstaat Colorado gab es im gleichen Zeitraum 375 Vorfälle. Hinzu kommt, dass es Zementöfen an den in modernen Verbrennungsanlagen vorhandenen Abscheidevorrichtungen mangelt, was sie weitaus gefährlicher macht. Der EPA zufolge erzeugen Zementöfen, in denen gefährliche Abfälle verbrannt werden, 80-mal höhere Dioxinemissionen in den Rauchgasen als solche, die nur konventionelle Brennstoffe verwenden.
Unrühmliches Verhalten der indischen Zementbranche
Es muss kaum erwähnt werden, dass die Regulierungssysteme in Indien weit hinter internationalen Standards zurückbleiben und selbst grundlegende Verfahren zur Überwachung der Umweltverschmutzung nur selten zum Einsatz kommen. Indische Zementwerke sind für ihre negativen ökologischen und sozialen Auswirkungen berüchtigt. Im Mai 2012 verhängte das oberste Gericht des indischen Bundesstaats Himachal Pradesh wegen der Verletzung von Umweltschutzgesetzen eine Geldbuße in Höhe von 15 Millionen US-Dollar gegen Jaypee Cements, eine Tochtergesellschaft von Birla UltraTech Cements, eines der größten Zementhersteller Indiens. Im Oktober 2016 legte die Umweltbehörde des Bundesstaats Maharashtra ein Zementwerk in Mumbai wegen exzessiver Umweltverschmutzung still. Im Juni 2017 erließ die Bundesumweltschutzbehörde CPCB Schließungsmitteilungen wegen der Nichteinhaltung von Umweltschutzanforderungen an gleich drei Zementwerke.
Um die durch den Sektor verursachte Umweltverschmutzung einzudämmen, aktualisierte Indien im Mai 2016 die Emissionsgrenzwerte für Zementwerke. Trotz mehrfacher Aufforderung durch die CPCB und das Umweltministerium hält sich die Branche jedoch nicht an die neuen Werte und beruft sich dabei auf eine mangelnde Verfügbarkeit der erforderlichen technischen Ausstattung von ihren Zulieferern.
Umweltexperten bewerten die neuen Immissionsschutzgesetze als lax im Vergleich zu denen in Ländern wie Deutschland, Australien und Südafrika. Dennoch fordert die indische Zementbranche eine weitere Aufweichung der Normen.
Die GIZ fördert die Mitverbrennung in Indien weiterhin als Klimastrategie
Wie bereits in unserem letzten Artikel hervorgehoben, spielt die GIZ eine Rolle bei der Förderung der Mitverbrennung im Globalen Süden. Die Stellung der GIZ als renommierte technische Instanz verleiht ihrer Stimme in der Ausrichtung der Umweltpolitik Indiens erhebliches Gewicht. Obwohl die GIZ auf die negativen Auswirkungen der Mitverbrennung hingewiesen wurde, nutzt sie ihren Einfluss leider weiterhin zur Propagierung dieser Technologie in Indien.
So stellte sie die Mitverbrennung in der Zementherstellung erst kürzlich auf der Internationalen Konferenz zu alternativen Brennstoffen und Rohmaterialien in der Zementindustrie 2017 als geeignete Klimaschutzstrategie gemäß dem indischen Klimaschutzplan NAMA vor. Die Präsentation propagierte die Herstellung von Refuse-Derived Fuel (aus Siedlungsabfällen gewonnenen Ersatzbrennstoffen, RDF) als Klimaschutzstrategie – die aber, wie dargelegt, eine Scheinlösung für Abfallmanagement und Klimaschutz ist.
Die Rolle Deutschlands bei der Förderung unsauberer Technologien wie Müllverbrennung und Nutzung von Ersatzbrennstoffen in Indien stellt zudem keine neue Entwicklung dar. Im Jahr 2012 erhielt Hanjer BioTech Energies, Indiens größtes RDF-verarbeitendes Unternehmen, 40 Millionen US-Dollar von der Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft mbH (DEG). 2014 ermittelten die indischen Strafverfolgungsbehörden wegen Geldwäsche und Betrugs gegen Hanjer.
Der Fall vor dem Umweltschutztribunal
Als Reaktion auf die unzureichenden gesetzlichen Bestimmungen für die Verbrennung von Abfällen in Zementwerken und die dazu gesammelten und veröffentlichten Beweise wurde am National Green Tribunal ein Antrag in öffentlichem Interesse gestellt, der mangelnde behördliche Sorgfalt beanstandete. Daraufhin wurde die Bundesumweltschutzbehörde CPCB veranlasst, den Abschnitt zum Thema Zement im Umweltschutzgesetz anzupassen. In der Folge wurden zudem strengere Richtlinienentwürfe für Sicherheitsfragen bei Lagerung, Transport und Vorbehandlung von Abfällen angekündigt. Die Umsetzung dieser Gesetzgebung lässt indes auf sich warten.
In Anbetracht dieser Tatsachen und des unrühmlichen Verhaltens der indischen Zementbranche ist die Förderung eines potentiell gefährlichen Verfahrens wie der Mitverbrennung fahrlässig, und die GIZ sollte die Förderung dieser Praxis unverzüglich einstellen.
Der Blick nach vorn
Der Fall Indiens veranschaulicht die Notwendigkeit, Klimalösungen genau unter die Lupe zu nehmen und über die theoretische Modellierung hinaus zu betrachten. Lösungen für den Abfallsektor sollten unter Klimagesichtspunkten entwickelt werden und auf einer Abfallhierarchie basieren, die die Abfallvermeidung und den Ausbau von Wiederverwendungs-, Recycling- und Kompostierungsprogrammen (d. h. die Abfallvermeidung) als eine der schnellsten, billigsten und wirksamsten verfügbaren Strategien zur Bekämpfung des Klimawandels fördert.
Die Mitverbrennung stellt – wie die Verbrennung oder Deponierung von Abfällen – eine Entsorgungsoption dar, die eine Überkonsum- und Wegwerfgesellschaft fortschreibt und von der klimafreundlichen Zukunft, die wir aufbauen müssen, um einen katastrophalen Klimawandel zu vermeiden und das Pariser Abkommen einzuhalten, weit entfernt ist.
Gastbeitrag von Dharmesh Shah/ GAIA und Mariel Vilella / Zero Waste Europe
Weiterlesen unter: www.no-burn.org.