100 Milliarden / Internationale Klimafinanzierung
100-Milliarden-Fahrplan lässt wichtige Baustellen offen
Gerade rechtzeitig vor der nächsten UN-Weltklimakonferenz COP22 in Marokko haben die Industrieländer nun ihren Fahrplan zur Klimafinanzierung vorgelegt. Mit diesem 100-Milliarden-Fahrplan wollen sie darstellen, wie sie ihr Versprechen zu erfüllen gedenken, die finanzielle Unterstützung für die Entwicklungsländer im Kampf gegen den Klimawandel bis 2020 auf das Niveau von jährlich 100 Mrd. US-Dollar zu steigern.
Diese finanzielle Unterstützung ist eine völkerrechtliche Verpflichtung, die bereits in der UN-Klimarahmenkonvention festgelegt ist. Artikel 4.3 und 4.4 sehen vor, dass die reichen Länder den armen Ländern bei der Bewältigung der zusätzlichen Kosten bei Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel helfen sollen. Nun ist es so, dass die Unterstützung eine völkerrechtliche Verpflichtung ist, das 100-Milliarden-Ziel aber ein Ziel ist, dass sich die reichen Länder selbst gesetzt haben und darauf bestehen, dass es sich um ein freiwilliges Ziel handelt. Die Staatengemeinschaft hat dieses Ziel zwar auf der UN-Weltklimakonferenz des Jahres 2010 zur Kenntnis genommen, aber nicht darüber verhandelt hat. Verhandelt wurde damit auch nicht über die Frage, wie das Ziel zu erfüllen sei. Darauf gründen die Industrieländer ihre Haltung, dass sie selbst entscheiden können, was und wie hinsichtlich der Zielerfüllung zu zählen ist.
Dieser Umstand macht den 100-Milliarden-Fahrplan, der nun auf einer Ministerkonferenz in Marokko zur Vorbereitung der COP22 vorgestellt wurde, besonders interessant, denn mit diesem Fahrplan wird klar, was das 100-Milliarden-Versprechen eigentlich wert ist und wie es in den nächsten Jahren weitergehen soll. Interessant ist die Sache auch, weil die Entwicklungsländer solch einen Fahrplan seit Jahren gefordert, und die Industrieländer diese Forderung immer wieder zurückgewiesen hatten. Bis jetzt. Was also sind die Kernaussagen des Fahrplans?
“Die Industrieländer stehen weiterhin zu ihrem 100-Milliarden-Ziel.”
Das war auch nicht anders zu erwarten gewesen. Das Versprechen war einer der Gründe, warum der ansonsten ergebnislose Klimagipfel von Kopenhagen 2009 nicht völlig gescheitert war. Seither hat die Klimafinanzierung stetig zugenommen, insbesondere im Vorlauf zur UN-Weltklimakonferenz Ende 2015, auf der das Pariser Klimaschutzabkommen beschlossen wurde, in dem der Klimafinanzierung besondere Bedeutung eingeräumt wird. Zu Recht, denn um die Ziele des Abkommens zu erreichen, die globale Erwärmung möglichst auf maximal 1,5°C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen und gleichzeitig sicherzustellen, dass sich die Gesellschaften aller Länder an die klimatischen Veränderungen anpassen können, müssen gewaltige Finanzströme, öffentliche wie private, umgelenkt, umgeschichtet und mobilisiert werden. Eines der Puzzleteile dazu ist das 100-Milliarden-Versprechen.
“Wir sind zuversichtlich, dass wir das 100-Milliarden-Ziel erfüllen werden.”
Der 100-Milliarden-Fahrplan besteht im Wesentlichen aus Projektionen, wie sich nach Ansicht der Industrieländer bis 2020 entwickeln wird, ausgehend davon, was einzelne Länder und auch die multilateralen Entwicklungsbanken vor und während des Klimagipfels von Paris zugesagt hatten. Demnach gehen die Industrieländer davon aus, dass die Klimafinanzierung aus öffentlichen Mitteln derzeit ein Niveau von 40,7 Mrd. US-Dollar pro Jahr (Durchschnitt der Jahre 2013-2014) hat. Nach dem Fahrplan würde dieses Niveau um 26 Mrd. US-Dollar anwachsen, so dass für das Jahr 2020 nun ein Niveau von 66,8 Mrd. US-Dollar pro Jahr erreichen soll.
Der Fahrplan schätzt zudem ab, dass neben den öffentlichen Mitteln auch die privaten Investitionen, die die Industrieländer “mobilisieren” (z.B. durch öffentliche Ko-Finanzierung), bis 2020 weiter anwachsen werden, auf ein Niveau von 24,2 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Rechnet man nun noch (wie die Industrieländer es tun) das durch Exportkreditversicherungen abgesicherte Investitionsvolumen hinzu, erhöht sich der Betrag noch einmal um etwa 1,6 Mrd. US-Dollar pro Jahr. Zusammen ergibt das für das Jahr 2020 ein Niveau von knapp 93 Mrd. US-Dollar.
Das ist einigermaßen dich dran an den versprochenen 100 Mrd. US-Dollar pro Jahr und eine beeindruckende Summe – auf den ersten Blick. Immerhin: einige der Industrieländer hatten im Vorfeld zum Pariser Klimagipfel beachtliche Zusagen gemacht, darunter etwa Deutschland oder Großbritannien, die jeweils eine Verdoppelung ihrer Klimafinanzierung bis 2020 zugesagt hatten.
Trotzdem basiert der Fahrplan auf Anrechnungsmethoden, die zumindest in Teilen für das gewünschte Ergebnis angepasst wurden, damit die Zahlen höher ausfallen als die zugrundeliegende tatsächliche Unterstützung für die Entwicklungsländer.
Beispielsweise werden Kredite mit ihrem Nennwert gezählt, obwohl diese Kredite zurückgezahlt werden müssen, oft zu Marktkonditionen. Zwar lassen sich mit solchen Krediten Maßnahmen finanzieren, die Kosten davon übernehmen aber in solchen Fällen die Entwicklungsländer selbst. Eine Unterstützungsleistung der Industrieländer im Sinne der Artikel 4.3 und 4.4 der UN-Klimarahmenkonvention findet also nicht statt.
Die Zählweise der Industrieländer rechnet außerdem den (wenn auch im Vergleich eher geringen) Betrag der Exportkreditversicherungen hinzu, dabei entscheiden solche Instrumente eher, welches Unternehmen aus welchem Exportland den Zuschlag für ein Projekt bekommt. Zusätzliche Mittel werden also nicht mobilisiert oder bereitgestellt.
Ferner fußt der Fahrplan auch darauf, dass die mobilisierten privaten Mittel den Industrieländern zuzurechnen seien. Das aber ist alles andere als eindeutig. Im Falle einer Ko-Finanzierung durch öffentliche Mittel eines Industrielands (für ein Klimaschutzprojekt in einem Gastland) etwa sind solche Instrumente möglicherweise zwar das Zünglein an der Waage; die eigentliche Motivation für einen Investor ist aber selbstverständlich nicht die Ko-Finanzierung, sondern der vorgefundene Markt im Gastland. Auf diese Weise mobilisierte Mittel sind also weder dem einen noch dem anderen Land eindeutig zuzuweisen.
Und schließlich kommt noch hinzu, dass viele der Geberländer die Klimarelevanz angerechneter Projekte vermutlich zum Teil deutlich überschätzen (und so ihre Zahlen aufblähen). In einer Analyse der Klimafinanzierung aus Deutschland ergab sich, dass bei etwa einem Viertel der dem Klimaschutz zugerechneten Maßnahmen der Bezug in den Projektbeschreibungen nicht erkennbar war. Eine noch umfassendere Untersuchung von Adaptation Watch zu Anpassungsprojekten von sämtlichen Geberländern kam zu noch ernüchternderen Ergebnissen.
“Die Unterstützung zur Anpassung an den Klimawandel wird sich verdoppeln.”
Derzeit, so die OECD, werden etwa 16 Prozent der Klimafinanzierung für Anpassungsmaßnahmen aufgewendet, im Durchschnitt der Jahre 201-3014 warten das knapp 10 Mrd. US-Dollar pro Jahr. Der Fahrplan geht jetzt davon aus, dass sich dieses Volumen bis 2020 auf knapp 20 Mrd. US-Dollar pro Jahr verdoppeln werde.
Das würde bedeuten, dass 2020 nur etwa ein Fünftel des 100-Milliarden-Versprechens zur Unterstützung von Anpassung bereitstünde. Von einer Ausgewogenheit zwischen Klimaschutz und Anpassung, wie es auch das Pariser Abkommen vorsieht, kann also keine Rede sein.
Aber auch jenseits der formalen Argumente ist diese Aussicht besorgniserregend: Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen schätzt, dass die Anpassungskosten in den Entwicklungsländern bis 2030 auf jährlich 140-300 Mrd. US-Dollar anwachsen werden. Knapp 20 Mrd. US-Dollar pro Jahr an Unterstützung sind also völlig unzureichend.
Was ist zu tun?
Die Industrieländer erhoffen sich von der kommenden UN-Weltklimakonferenz wenigstens formale Anerkennung für ihren Fahrplan. Man hört auch, dass einige der Geberländer der Ansicht sind, das Thema 100-Milliarden-Versprechen mit dem Fahrplan vom Tisch geräumt zu haben – diese Hoffnung wird sich vermutlich nicht erfüllen.
Richtig ist, dass die eine oder andere Form der Zurkenntnisnahme durch die COP22 angemessen wäre, denn zumindest liefert der Fahrplan nun mehr Klarheit, wie die Reise bis 2020 weitergehen soll. Der Fahrplan enthält auch einige interessante Aspekte über die konkreten Maßnahmen (etwa im Bereich Anpassung), die die Geberländer in Zukunft verstärkt angehen wollen. In gewisser Weise ist der Fahrplan auch ein Angebot an die Entwicklungsländer, ihre Schlussfolgerungen zu ziehen, etwa für den Verhandlungspunkt Klimafinanzierung auf der COP22.
Dzu gehört zuallererst das Problem der auch für 2020 vorhergesagten, deutlich zu geringen Unterstützung zur Anpassung an den Klimawandel. Die Industrieländer wären gut beraten, ihre Unterstützung deutlich starker ausfallen zu lassen, als es ihr Fahrplan derzeit vorsieht. Im Vorfeld zum Pariser Klimagipfel hatte etwa die Gruppe der afrikanischen Länder gefordert, für das Jahr 2020 ein Ziel von 32 Mrd. US-Dollar pro Jahr für die Anpassung anzustreben und damit bis 2020 den Anteil (16 Prozent) und nicht den Dollarbetrag (10 Mrd. US-Dollar) zu verdoppeln. Wenn COP22 nun den Fahrplan begrüßt, sollte dies unbedingt mit der Forderung nach einem deutlich stärkeren Anstieg der Anpassungsfinanzierung einhergehen.
Der Fahrplan unterstreicht auch die Wichtigkeit der transparenten Berichterstattung – dies steht ohnehin auf der Tagesordnung der COP22. Grundsätzlich sollte diese Berichterstattung wesentlich besser werden darin, nur die tatsächlich klimarelevanten Anteile von bereitgestellten Geldern im Fokus haben und so der Verlockung einen Riegel vorschieben, großzügig Mittel der Entwicklungshilfe anzurechnen, nur weil (völlig richtigerweise) das Thema Klimawandel zunehmend in die Entwicklungshilfe integriert wird. Die Berichterstattung sollte sich zudem stärker die Netto-Unterstützung konzentrieren und etwa die Zählweise von Darlehen und anderen Instrumenten dahingehend reformieren, dass jeweils nur das Zuschussäquivalent (z.B. der Wert der Zinsvergünstigung bei konzessionären Darlehen) angerechnet wird. Eine Zählweise auf dieser Basis wäre mit Blick auf die Formulierung der UNFCCC-Finanzierungsverpflichtung der Industrieländer wesentlich angemessener, denn dort geht es ja um die Unterstützung für die zusätzlichen Aufwendungen, d.h. jene Kosten, die etwa durch Kredite zu Marktkonditionen gerade nicht abgedeckt, sondern von den Entwicklungsländern im Zuge der Rückzahlung solcher Marktkredite selbst getragen würden.
Was die Mobilisierung privater Investitionen durch die Industrieländer angeht, gibt es weiterhin offene Baustellen. Zum einen ist diese durch Industrieländer mobilisierte Finanzierung sehr klein im Vergleich zu den weltweiten Finanzflüssen, die insgesamt umgeschichtet werden müssen. Es kommt daher umso mehr an, größtmögliche transformative Wirkung mit den mobilisierten Mitteln zu erzielen. Zum anderen sollte die Anrechnung solcher Gelder berücksichtigen, dass sie im Grunde weder der einen noch der anderen Seite zugerechnet werden können, weil die Mobilisierung immer von mehreren Faktoren abhängt.
Schließlich gibt es mehrere Länder, die noch keine Aussagen getroffen haben, wie ihre jeweilige Unterstützung bis 2020 anwachsen soll, beziehungsweise deren Ankündigungen keine Steigerung gegenüber dem aktuellen Niveau bedeuten (Australien zum Beispiel). In Paris waren sie damit noch durchgekommen – jetzt wäre es an der Zeit, dies zu korrigieren.
Jan Kowalzig, Oxfam